Einleitung:
Suresh Kumar Sharma hält mit 70 030 Zahlen den derzeitigen Weltrekord in der Wiedergabe der Nachkommastellen von Pi, Boris Nikolai Konrad erinnerte 201 Namen und Gesichter in 15 Minuten und Fabian Saal merkte sich eine Sequenz von 180 zufällig angeordneten Farben.
Die Liste sogenannter Gedächtnisrekorde ist lang und wird stetig länger. Doch wie unterscheiden sich solche „Gedächtniskünstler“ von anderen Menschen? Sind sie schlichtweg besonders gute Lerner*innen? Grundlegend unterscheiden sie sich gar nicht von anderen Menschen, versichern zahlreiche Gedächtniskünstler*innen und Neuropsycholog*innen. Gedächtniskünstler*innen weisen immer wieder darauf hin, dass es sich bei ihren Leistungen weder um Wunderwerke noch eine spezielle Begabung handle, vielmehr komme es schlichtweg auf die richtigen Merk- und Lerntechniken und das stetige Training dieser an.
Nun scheint es den meisten von uns im Alltag wenig relevant, tausende von Zahlen in der richtigen Reihenfolge wiedergeben zu können, dennoch folgt eine wichtige Erkenntnis aus diesen schwindelerregenden Gedächtnisleistungen: Richtig lernen will gelernt sein und mit den richtigen Strategien können wir unser kognitives Potential viel effektiver nutzen, als wir es intuitiv im Alltag tun!
Relevanz:
Wenn wir einmal genauer darauf achten, wie oft wir uns an einem gewöhnlichen Tag Dinge merken müssen, wird klar, dass ein normales Leben ohne unsere Gedächtnisleistung kaum zu bewältigen wäre: Der Einsatz des Gedächtnisses beginnt beim Einsteigen in den richtigen Bus, zieht sich weiter über das Erinnern der Namen unserer Kolleg*innen und der Arbeitsabläufe im Beruf, bis hin zum Einkauf im Supermarkt und der Erinnerung, uns den Wecker für den nächsten Morgen zu stellen.
Darüber hinaus wandelt sich die moderne (Berufs-)Welt in atemberaubender Geschwindigkeit und während vor einigen Jahrzehnten körperliche Arbeit im Job noch die Regel war, stehen nun kognitive Fähigkeiten, psychische Flexibilität und Spezialisierungen im Mittelpunkt. Außerdem kann Weiterbildung und kognitive Förderung den Selbstwert stärken und der Prävention von Vergesslichkeit im Alter dienen. Anhand dieser Beispiele wird klar, dass Lernen einen großen Stellenwert im Alltag einnimmt und es sich definitiv lohnt, auch auf einer Meta-Ebene einen Blick auf die psychologische Fähigkeit des Lernens zu werfen, z. B. mit folgender Fragestellung:
Was weiß die heutige Lernforschung über die Lernfähigkeit und das Gedächtnis des Menschen? Und wie können wir lernen, effektiver zu lernen?
Befunde:
Was ist lernen?
„Lernen ist der Prozess, der zu einer relativ stabilen Veränderung von Reiz-Reaktions-Beziehungen führt; er ist eine Folge der Interaktion des Organismus mit seiner Umgebung mittels seiner Sinnesorgane.“ (Zimbardo & Gerrig, 1999)
Aus dieser lernpsychologischen Definition gehen bereits drei wesentliche Erkenntnisse über das Lernen hervor: 1) Lernen passiert im Normalfall nicht plötzlich, vielmehr handelt es sich um einen Prozess. 2) Lernen geschieht durch Erfahrungen, die wir im Austausch mit unserer Umwelt machen, also durch sogenannte Reiz-Reaktions-Beziehungen. D.h. man benötigt zum Lernen einen Input (Reiz), der von uns wahrgenommen wird, was dann wiederum eine Reaktion unseres Gehirns hervorruft. 3) Im Mittelpunkt der meisten Lernerfahrungen steht also ein wechselseitiger Austausch zwischen unserer Umgebung und unserem Gehirn.
Wie genau funktioniert diese Interaktion mit der Umwelt?
Wenn es einem Reiz gelingt, unsere Aufmerksamkeit zu erlangen (die allermeisten Reize im Alltag werden an dieser Stelle bereits „ausgesiebt“), d.h. wenn er z.B. auffällig genug ist oder bereits an individuelle Erfahrungen anknüpft, kann er eine Erregung unserer Neuronen (Nervenzellen) im Gehirn erzielen.
Wir besitzen im Durchschnitt ca. 86 Millionen Neuronen (Herculano-Houzel, 2009), welche wiederum in Netzwerken verknüpft sind. Auch diese Netzwerke besitzen untereinander Verbindungen. Unser Gehirn beherbergt also riesige interagierende Schaltkreise, die eingehende Informationen verarbeiten, ihre Wichtigkeit einstufen und sie je nach „Zuständigkeit“ kategorisieren. Wenn eine bestimmte Information erstmals in unsere neuronalen Netzwerke gerät und verknüpft wird, sind diese Verknüpfungen erst einmal relativ instabil. Man kann sich das Ganze als eine Art „Trampelpfad“ vorstellen. Erst wenn dieser Pfad viele Male gegangen wurde, also die Informationen oftmals abgerufen wurden, entsteht ein solider, gut begehbarer Wanderweg.
Genauso ist es mit unserer Erinnerung: Verarbeiten wir Inhalte lediglich einmalig, besteht nur eine schwache neuronale Einbettung. Bei Inhalten, die wir tagtäglich abrufen und vielleicht sogar stetig neuen Netzwerken zuordnen (z.B. beim Fahrradfahren), können wir anstelle eines Trampelpfades schon eher von einer dreispurigen Autobahn sprechen. Über Reize, die solch eine gute Vernetzung besitzen, denken wir im Alltag häufig gar nicht mehr nach (z.B. das Schalten beim Fahrradfahren) und mit ihnen verbundene Handlungsabläufe geschehen scheinbar mühelos.
Was geschieht mit eingehenden Informationen in unserem Gehirn?
Man kann sich die nachfolgenden Prozesse recht gut vorstellen, wenn man sich einer Computer-Metapher bedient: Die Informationen müssen schließlich in irgendeiner Form in unserem Gehirn gespeichert bzw. abgelegt werden. Und dies geschieht normalerweise nicht automatisch, sondern muss von uns aktiv eingeleitet werden. An dieser Stelle kommt das Gedächtnis ins Spiel, denn ohne dieses sind Lern- und Erinnerungsprozesse nicht möglich.
Aus jahrzehntelanger psychologischer und neurobiologischer Forschung entstanden bereits zahlreiche Konzeptualisierungen des Gedächtnisses. Welches davon nun das „richtige“ Modell darstellt, lässt sich aufgrund der uneindeutigen Datenlage derzeit nicht endgültig klären. Ein Modell, welches sich jedoch durch seine Plausibilität und seine weitgehende Deckung mit neuropsychologischen Befunden (Malmberg et al., 2019) besonderer Popularität erfreut, ist das sogenannte „Dreispeichermodell“ nach Atkinson und Shiffrin (1968). In diesem wird, kurz gesagt, angenommen, dass alle eingehenden wahrgenommenen Informationen in unserem Gedächtnis in ein „sensorisches Register“ gelangen, von wo aus die Informationen zwei Wegen folgen können: Zum einen können Informationen als irrelevant eingestuft und verworfen werden, sie werden dann nicht weiter verarbeitet. Andererseits können Informationen in unseren Aufmerksamkeitsfokus geraten und den Weg bis in unser Kurzzeitgedächtnis bestreiten. Von dort aus werden sie rekodiert, reorganisiert und können auch bereits von uns abgerufen werden. Da hier aber lediglich 4-9 Elemente gleichzeitig verarbeitet werden können, werden viele Informationen an dieser Stelle erneut wegen mangelnder Relevanz „aussortiert“. Lediglich Informationen, die mehrfach auf besondere Art unsere Aufmerksamkeit erhalten, z.B. durch Wiederholung oder eine emotionale Bedeutsamkeit, werden ins Langzeitgedächtnis übertragen, welches theoretisch über eine unbegrenzte Speicherkapazität verfügt.
In genau diesen Übertragungsprozessen zwischen den drei Speichern sind Lernprozesse zu verorten. Und auch hier wird deutlich: Lernen geschieht nicht auf passive Art und Weise, sondern benötigt unsere bewusste Aktivität.
Lernen wir alle auf die gleiche Art und Weise?
Es gibt unterschiedliche Arten, zu lernen und nicht jede Art und Weise wird von jeder/ jedem von uns gleichgut angenommen. Zum einen können wir über verschiedene Sinnesmodalitäten lernen. Hier kann es bereits individuelle Unterschiede geben; so scheint der eine sich gehörte Inhalte besser einprägen zu können, ein anderer braucht scheinbar unbedingt eine visuelle Untermalung, um Dinge erinnern zu können (z.B. Vester, 1998).
Eine weitere Unterscheidung, die empirisch als gut abgesichert gilt, trifft Kolb (2007) mit seiner Theorie der vier Lerntypen: Er geht davon aus, dass Menschen entweder primär über konkrete Erfahrung, aktives Experimentieren, abstrakte Begriffsbildung oder reflektierte Beobachtung lernen. Auch Mischformen hält er für möglich.
Doch was bedeuten diese Erkenntnisse für unsere alltäglichen Lernprozesse? Weder Lerntypentheorien, noch Erkenntnisse über individuelle Lernpräferenzen sollen implizieren, dass wir nur auf eine Art und Weise effektiv lernen können und in jeder Situation auf diese Lernmethode zurückgreifen sollten. Vielmehr steht die Selbstreflektion und das sich-vertraut-Machen mit den eigenen Methoden und Möglichkeiten im Vordergrund. Dieses Wissen kann letztlich enorm dazu beitragen, uns flexible Lernstrategien anzueignen, uns z. B. in Gruppenarbeiten besser reflektieren und anpassen zu können und den Mut zu fassen, auch einmal Methoden auszuprobieren, die außerhalb unserer „Komfortzone“ liegen.
Wie können wir unser Lernverhalten durch Lernstrategien optimieren?
Programme und Apps zum sogenannten Gehirnjogging erleben seit einigen Jahrzehnten einen enormen Aufschwung. Es besteht also ein breites Interesse unserer Gesellschaft daran, die eigenen Lern- und Gedächtnisfähigkeiten zu optimieren. Leider scheint Gehirnjogging laut aktueller Studien jedoch nicht der effektivste Weg zu diesem Ziel zu sein: Forscher*innen fanden in einer Meta-Analyse heraus, dass kognitive Trainings wie „Gehirnjogging“ keine bedeutsame Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit, z.B. der Erinnerungsfähigkeit, erzielen konnten (Bahar-Fuchs et al. 2013).
Doch wie können wir dann unsere Lernfähigkeit verbessern? Einen wichtigen Ansatzpunkt sieht die Lernpsychologie in Meta-Strategien (also übergeordneten Herangehensweisen), die das Lernen betreffen. Das bedeutet, dass wir uns anstelle eines spezifischen Trainings, übergeordnete Lernmethoden und -strategien aneignen, die uns in verschiedensten Lernsituationen helfen, Inhalte besser ins Langzeitgedächtnis zu übertragen oder einen schnelleren Abruf aus dem Kurzzeitgedächtnis zu ermöglichen.
Auch die Art der Informationsaufnahme scheint eine Rolle zu spielen, z. B. ob wir den Informationen Kategorien zuweisen oder sie mit bereits vorhandenem Wissen in Verbindung bringen.
Beispiele für effektive Lernstrategien sind unter anderem sogenannte Mnemotechniken (Scruggs & Mastropieri, 1989). Zu diesen zählen Methoden wie die recht bekannte „Loci-Methode“, aber auch die klassische Eselsbrücke und Buchstaben-Zahlen-Kodierungssysteme, die insbesondere das Einprägen von bedeutungsarmen Inhalten, wie Zahlenreihen, erleichtern. Diese Methoden machen sich assoziative Netzwerke des Gehirns zu Nutze und erzielen laut der Studien einen beachtlichen Zuwachs der Erinnerungsfähigkeit und anderer kognitiver Funktionen (Mastropieri et al., 1990). Betrachtet man Studien, die mithilfe von bildgebenden Verfahren die Gehirnaktivität messen, zeigen sich auch neuronal deutliche Veränderungen durch das Erlernen von Mnemotechniken (Maguiere et al., 2003; Hampstead et al., 2012). Hier scheinen also durch diese Techniken Trampelpfade leichter zu Autobahnen ausgebaut worden zu sein.
Doch auch auf den Ebenen unseres Verhaltens und unserer Motivation können wir bestimmten Leitlinien folgen, die uns das Lernen erleichtern: So spielt z. B. die Lernumgebung eine ausschlaggebende Rolle für die Effektivität des Lernens (Trigwell & Prosser, 1991) und wir können einem Motivationsverlust und Prokrastination (Aufschiebeverhalten) während des Lernprozesses vorbeugen, indem wir uns von Anfang an realistische Ziele setzen und diese immer wieder im Einklang mit einem Vergleich des Ist- und Soll-Zustands evaluieren (Schunk, 1990). Nicht unerwähnt bleiben sollten auch die Konzentrationsfähigkeit und der Umgang mit Stress, da diese im Zusammenspiel mit unseren emotionalen Zuständen besonderen Einfluss auf unsere Leistungsfähigkeit im Allgemeinen, so wie unsere Lernfähigkeit im Spezifischen nehmen (z.B. Kärner et al., 2017).
Aus empirischen Befunden und praktischen lernpsychologischen Beobachtungen lässt sich schließen, dass unsere Lernfähigkeit optimiert werden kann. Durch das Training lernfördernder Techniken und Strategien können die individuelle Lern- und Merkfähigkeit und somit auch langfristig die kognitive Leistungsfähigkeit, signifikant verbessert werden. Im derzeitigen Schulsystem und anderen Bildungssystemen nimmt das Thema „Lernen lernen“ jedoch bislang einen verschwindend kleinen Raum ein, was in Anbetracht dessen, dass Lernen ein Kernelement von Bildung darstellt, beinahe paradox scheint.
Workshops wie der von uns angebotene Kurs zum Thema „Lernen lernen“ setzen an grundlegenden lernpsychologischen und neuropsychologischen Erkenntnissen an und fokussieren praxisorientierte Lernstrategien und -techniken, die im Alltag zu einem langfristigeren, effektiverem Lernen beitragen können.
Literatur:
Atkinson, R. C., & Shiffrin, R. M. (1968). Human memory: A proposed system and its control processes.
Bahar-Fuchs A, Clare L, Woods B. Cognitive training and cognitive rehabilitation for mild to moderate Alzheimer’s disease and vascular dementia. Cochrane Database Syst Rev. 2013;2013(6):CD003260. Published 2013 Jun 5. doi:10.1002/14651858.CD003260.pub2
Hampstead, B. M., Sathian, K., Phillips, P. A., Amaraneni, A., Delaune, W. R., & Stringer, A. Y. (2012). Mnemonic strategy training improves memory for object location associations in both healthy elderly and patients with amnestic mild cognitive impairment: A randomized, single-blind study. Neuropsychology, 26(3), 385.
Herculano-Houzel, S. (2009). The human brain in numbers: a linearly scaled-up primate brain. Frontiers in human neuroscience, 3, 31.
Kärner, T., Sembill, D., Aßmann, C., Friederichs, E., & Carstensen, C. H. (2017). Analysis of person-situation interactions in educational settings via cross-classifi ed multilevel longitudinal modelling: illustrated with the example of students’ stress experience. Frontline Learning Research, 5(1), 16–42. DOI: 10.14786/fl r.v5i1.137.
Kolb, D. A. (2007). The Kolb learning style inventory. Boston, MA: Hay Resources Direct.
Maguire, E. A., Valentine, E. R., Wilding, J. M., & Kapur, N. (2003). Routes to remembering: the brains behind superior memory. Nature neuroscience, 6(1), 90-95.
Malmberg, K. J., Raaijmakers, J. G., & Shiffrin, R. M. (2019). 50 years of research sparked by Atkinson and Shiffrin (1968). Memory & cognition, 47(4), 561-574.
Mastropieri, M. A., & Scruggs, T. E. (1989). Constructing more meaningful relationships: Mnemonic instruction for special populations. Educational Psychology Review, 1, 83–111.
Mastropieri, M. A., Scruggs, T. E., & Fulk, B. J. M. (1990). Teaching abstract vocabulary with the keyword method: Effects on recall and comprehension. Journal of Learning Disabilities, 23, 92–96.
Schunk, D. H. (1990). Goal setting and self-efficacy during self-regulated learning. Educational Psychologist, 25, 71-86.
Trigwell, K., & Prosser, M. (1991). Improving the quality of student learning: the influence of learning context and student approaches to learning on learning outcomes. Higher education, 22(3), 251-266.
Vester, F. (1998). Denken, lernen, vergessen. 25. Auflage, München: dtv, 49-52.
Zimbardo, P. G., Gerrig, R. J., Hoppe-Graff, S., & Keller, B. (1999). Psychologie.