War früher wirklich alles besser?

Wir scheinen in einer Zeit zu leben, in der uns eine größere Vielfalt an Möglichkeiten als je zuvor in allen Lebensbereichen zur Verfügung steht. Digitalisierung, die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und beruflichen Anforderungen, neue Technologien sowie die voranschreitende Globalisierung gehören ebenso zum Alltag der westlichen Welt wie Kaffee am Morgen. Besonders in den letzten Monaten, einhergehend mit den pandemiebedingten Schutzmaßnahmen wurde uns sehr eindrücklich vor Augen geführt, welchen unvergleichbaren Stellenwert digitale Medien und internetbasierte Technologien in unserer Gesellschaft einnehmen. Auch wurde uns klar, wie abhängig wir teils von ihnen sind. Neben den zahlreichen Vorteilen, die der digitale Fortschritt mit sich bringt, bestehen weiterhin große Unsicherheiten, Probleme und ungeklärte Fragen bzgl. unseres alltäglichen Lebens in einer sich mehr und mehr digitalisierenden Welt.

Der gesellschaftliche Wandel bringt viele Freiheiten mit sich, z.B. wird eine schier unüberschaubare Zahl von Studiengängen in beinahe allen denkbaren Bereichen angeboten und der Zugang zu Bildung im Allgemeinen ist um ein vielfaches leichter als er es beispielsweise für unsere Großeltern und Eltern war. Vielen von uns ist es möglich, im Ausland zu leben und zu arbeiten, wenn wir es möchten und flexible Arbeitszeiten aus dem Homeoffice sind längst keine Utopie mehr, sondern für viele von uns, zumindest zeitweise, Realität. Die meisten von uns arbeiten in Jobs, in denen sie keine schwere körperliche Arbeit mehr verrichten müssen, Arbeitsabläufe werden zunehmend automatisierter und Deutschlands Wirtschaft boomt.

Jedoch gibt es in unserem modernen Alltag auch zahlreiche neue potentielle Stressoren. Einige Autor*innen postulieren, das Thema Stress sei heutzutage lediglich präsenter und werde in Medien und gesellschaftlichen Diskursen häufiger diskutiert, habe aber tatsächlich nicht quantitativ zugenommen. Dem widersprechen 62% der Befragten aus der TK-Studie (2016), welche angaben, dass das Leben in ihrer Wahrnehmung heute stressiger sei als noch vor 15/20 Jahren. Derzeit kann wissenschaftlich noch kein finales Urteil über die Veränderung des allgemeinen Stresslevels gefällt werden, jedoch würden wohl die meisten Menschen damit übereinstimmen, dass Stress ein allgegenwärtiges Thema unserer Zeit darstellt.

Das aus dem US-amerikanischen Militär stammende und kürzlich von der Arbeitspsychologie adaptierte Akronym VUCA fasst die stressauslösenden Komponenten der modernen Welt wie folgt zusammen:

V= Volatility (Unbeständigkeit): Die Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft und Arbeitswelt wandeln sich in rasender Geschwindigkeit. Es wird eine hohe Anpassungsfähigkeit in vielen Lebensbereichen vorausgesetzt, wir müssen uns neue Technologien schnellstmöglich aneignen, es herrscht Innovationsdruck, um dem globalen Wettbewerb standhalten zu können und das Individuum sieht sich mit einem ständigen Wandel in den Gegebenheiten der Außenwelt konfrontiert.

U= Uncertainty (Ungewissheit): Unter anderem durch die Unbeständigkeit unserer Zeit fehlt es an Stabilität und Vorhersehbarkeit in vielen unterschiedlichen Kontexten. Arbeitsverträge werden meist nur noch befristet ausgestellt, Zinssätze von Krediten unterliegen großen Schwankungen, Marktentwicklungen scheinen mitunter unberechenbar.

C= Complexity (Komplexität): Zusammenhänge scheinen komplexer und verworrener geworden zu sein. Viele verschiedene Variablen interagieren miteinander, verschiedene Systeme treffen aufeinander und müssen zu einem größeren integriert werden. Es fällt mitunter durch die zahreichen Vernetzungen schwer, den Überblick über alle Parameter zu behalten. Für beinahe alle Bereiche gibt es Spezialist*innen und es wird immer schwieriger, sich selbst in komplexe Themenbereiche einzuarbeiten.

A= Ambiguity (Mehrdeutigkeit): Viele Informationen sind nicht mehr eindeutig und nur auf eine Art und Weise zu interpretieren. Durch die drei anderen genannten Komponenten, fällt es immer schwerer, Eindeutigkeit in Informationen auszumachen. Dies führt wiederum zu Missverständnissen und zunehmender Unsicherheit, die durch zahlreiche verschiedene Rollen und immer weniger standardisierte Abläufe zusätzlich verstärkt werden. Kontextgebundene Flexibilität und Offenheit über den eigenen Tellerrand zu schauen, sind wichtiger denn je.

Die vier Faktoren (VUCA) interagieren wiederum miteinander und verstärken dadurch die Unsicherheit vieler Menschen immens. Die Autorin Petra Isabel Schlerit, welche sich auf Stressmanagement spezialisiert, gibt außerdem in ihrem Buch zu bedenken, dass Stress zu einer Art Statussymbol in unserer Gesellschaft geworden sein könnte (Schlerit & Fischer, 2018). Je mehr Stress wir empfinden, desto erfolgreicher sind wir scheinbar. Wer nicht von Stress berichtet, wird schnell als faul oder unproduktiv abgestempelt, sodass sich auch aus gesellschaftlicher Perspektive eine Art „Zwang zum Stress“ einstellt.

Während die VUCA-Faktoren eher allgemeine Änderungsprozesse abbilden, gibt es weitere Befunde die sich explizit mit dem Thema von Stress vor dem Hintergrund der Digitalisierung auseinandersetzen: So konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Digitalisierung und emotionaler Erschöpfung festgestellt werden (Gimpel et al., 2018). Dies mag besonders dadurch verstärkt werden, dass sich weniger als ein Drittel der Befragten dieser Studie sicher im Umgang mit digitalen Technologien am Arbeitsplatz fühlten. Auch im Privatleben hängen Stressbelastung und Internetkonsum zusammen: z.B. neigen Menschen mit einem höheren Stress- und Depressivitätslevel einerseits zu mehr Internetnutzung (Odacı & Çikrıkci, 2017), andererseits ist ein übermäßiger Internetkonsum mit einem größeren Stressempfinden (Akin, & İskender, 2011), Vereinsamung (Yang, 2001) und einer geringeren Lebenszufriedenheit (Ko et al., 2005) assoziiert. Daraus kann ein Teufelskreis resultieren, der die Personen einerseits vulnerabler für chronischen Stress macht und andererseits den Einsatz möglicher konstruktiver Umgangsweisen mit Stress erschwert.

Nicht ohne Grund entstehen seit geraumer Zeit Trends wie z.B. das „Digital Detoxing“, was so viel bedeutet wie digitale Entgiftung. Häufig führen Internetnutzer*innen diese durch, um Abstand zur ständigen digitalen Erreichbarkeit zu erzielen und wieder mehr „zu sich selbst zu finden“ (Miksch & Schulz, 2018). Immer mehr Anbieter*innen von Ferienhäusern werben aktiv damit, abgeschiedene Unterkünfte anzubieten und keine Internetverbindung zu besitzen. Nicht erreichbar zu sein, ist ein Luxusgut geworden.

Es sollte jedoch unterstrichen werden, dass es sich bei all diesen Befunden und Beobachtungen lediglich um korrelative Ergebnisse handelt, die nicht als kausaler Effekt gelten und nur bedingt generalisierbar sind. Demgegenüber existieren zahlreiche Studien, die die positiven Effekte der Digitalisierung hervorheben. Da es in diesem Artikel jedoch vorrangig um Einflussfaktoren auf Stress geht, liegt der selektive Fokus auf eher negativen Folgen.

Immer vernetzt und doch einsam?

Für 85% der deutschen 18- bis 29-Jährigen gehört die Kommunikation über soziale Medien zum Alltag (TK-Studie, 2016). Soziale Medien werden genutzt, um sich privat auf dem Laufenden zu halten, Treffen und Veranstaltungen zu organisieren, arbeitsbezogene Informationen im Team zu teilen und der Freundin ein Geburtstagsständchen zu singen. Es bestehen unbestreitbare Vorteile in der digitalen Kommunikation, wir können jederzeit mit Menschen aus der ganzen Welt kommunizieren und es wird möglich, einander in Echtzeit auf den neuesten Stand zu bringen.

Doch leider bringt diese neue Art der Kommunikation nicht nur Vorteile mit sich und ist auch kritisch zu betrachten: Durch die oft gleichzeitige Kommunikation mit mehreren Menschen fällt uns die Aufmerksamkeitslenkung und Konzentration auf einzelne Chats bzw. Gespräche immer schwerer, die Kommunikation wird tendenziell oberflächlicher. Auch wenn soziale Interaktion im tatsächlichen Leben stattfindet, können Smartphones und soziale Medien ein echter „Kommunikationskiller“ sein, da sie unser Kommunikationsverhalten selbst dann beeinflussen, wenn eine andere Person tatsächlich vor uns sitzt und wir uns in einem Gespräch befinden (Przybylski & Weinstein, 2013). Teils berichten besonders jüngere Menschen, dass sie eine Art Zwang zur Kommunikation empfinden, da auf dem Smartphone ständig neue Benachrichtigungen aufpoppen und es beinahe eine gesellschaftliche Erwartung geworden zu sein scheint, dass das Handy überall dabei ist und auch jederzeit genutzt werden kann- ob im Fitnessstudio, beim Spazierengehen oder auf der Arbeit.

Damit einhergehend, wurde das sogenannte Internet-Paradox beschrieben (Kraut et al., 1998). Dieses bezeichnet das Phänomen, dass ein Großteil der Personen, die das Internet hauptsächlich zur Kommunikation nutzten, in Studien eine geringere Ausprägung in sozialem Anschluss und Wohlbefinden zeigten. In den Folgejahren nach der ersten Entdeckung dieses Phänomens wurden differenziertere Befunde hervorgebracht: Diese zeigten, dass sich die soziale Situation introvertierter Internetnutzer*innen mit geringer sozialer Unterstützung eher verschlechterte, während extravertierte Personen, die sowieso schon viel soziale Unterstützung im Alltag erleben, auf sozialer Ebene von der Kommunikation im Internet profitierten (Kraut et al., 2002).

Warum stresst uns die Arbeitswelt 4.0 so sehr?

Die Digitalisierung der Arbeitswelt ist in vollem Gange. Der derzeit stattfindende Wandel wird oft als Arbeitswelt 4.0 bezeichnet. Diese neue Bezeichnung lehnt an die vierte industrielle Revolution an und erstreckt sich von den 1990er-Jahren bis jetzt. Arbeit 4.0 beinhaltet die Digitalisierung und Automatisierung von Arbeitsprozessen, einen Wandel in der Art der Unternehmensführung sowie zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten.

Eine Vielzahl von Tätigkeiten sind schneller, effizienter und automatisierter geworden. Viele Menschen fühlen sich von diesen Entwicklungen verunsichert oder sogar belastet. Die Forschung fasst solche negativen Effekte der Digitalisierung unter dem Term „Digitaler Stress“ oder „Technostress“ zusammen (Brod, 1982). Die Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt spiegeln sich besonders darin wider, dass den Arbeitnehmer*innen scheinbar wenig Vorteile durch die Entwicklungen entstehen. 46% der Teilnehmer*innen einer Umfrage der DGB (2016) gaben sogar an, dass sich ihre Arbeitsbelastung alles in allem durch die Digitalisierung vergrößert habe. Weniger als ein Zehntel der Befragten gab an, dass sie durch die Digitalisierung eine Entlastung am Arbeitsplatz bemerkten.

Digitaler Stress kann unter anderem durch das Empfinden entstehen, jederzeit für die Arbeit erreichbar sein zu müssen, so fühlen sich 38% der 19-bis 29-Jährigen in Deutschland davon unter Stress gesetzt (TK-Studie, 2016). Dies beeinträchtigt die Distanzierung vom Job nach Feierabend und damit die Regenerations- und Erholungsfähigkeit, die nötig ist, um chronischen Stress zu vermeiden (Rau, 2017).

37,5% der Arbeitnehmer*innen empfanden laut einer Studie von Gimpel und Kolleg*innen (2018) große Unsicherheit bzgl. der neuen Technologien an ihren Arbeitsplätzen. Auch das Gefühl, der Technik ausgeliefert zu sein und kein Mitspracherecht bzgl. der Technologisierung zu haben, werden als Hauptgründe für Unzufriedenheit und Stress am Arbeitsplatz genannt (DGB-Report, 2016). Aus digitalem Stress am Arbeitsplatz resultiert eine verringerte Arbeitszufriedenheit (Ragu-Nathan et al., 2008) und psychosomatische Beschwerden werden begünstigt (so leiden z.B. Personen mit digitalem Stress 25% häufiger an Kopfschmerzen als eine Kontrollgruppe; Gimpel et al., 2018).

Es bleibt daher zu unterstreichen, dass eine digitalisierte Arbeitswelt keinesfalls gleichzeitig mit besseren Arbeitsbedingungen einhergeht oder Stress reduziert. Vielmehr stellt die Arbeitswelt 4.0 neue Herausforderungen an Arbeitgeber*innen, Arbeitnehmer*innen, die Gesellschaft und Politik. Diese werden wir nur meistern können, wenn wir achtsam und offen für die Empfindungen anderer Menschen sind, den Einsatz von Technologien kritisch hinterfragen und unsere eigenen Einstellungen immer wieder reflektieren. Die zahlreichen Vorteile von sinnvoll eingesetzten Technologien, kann nur so in vollen Zügen genutzt werden.

Zeiten des Umbruchs bedeuten immer auch ein gewisses Maß an Stress und Verunsicherung. Wie wir mit diesen Konsequenzen der Digitalisierung und Globalisierung umgehen, ist eng mit unseren Stresskompetenzen und unserem gesamtgesellschaftlichen Umgang mit diesen Veränderungen verknüpft. Es bedarf mehr denn je eine gute Reflexionsfähigkeit, Introspektion und Selbstfürsorge, um seinen eigenen Platz in diesen neuen Verhältnissen zu finden. Der Umgang mit Stress ist heute eine der wichtigsten psychologischen Kompetenzen.

Zum Glück kann man Stresskompetenz lernen und aus verschiedenen Blickwinkeln auf die derzeitigen Entwicklungen schauen. Wenn Sie Lust dazu haben, weiterführende Informationen darüber zu erhalten, was Stress eigentlich ist und wie man stressbedingte Symptome vermeiden kann, schauen Sie gern auch in unsere Artikel zu den Themen „Stress verstehen: Eine psychologische Perspektive auf das Alltagsphänomen“ und „Wenn Stress krank macht: Das Burnout-Syndrom und wie wir mit Stress konstruktiv umgehen können“. Des Weiteren bieten wir Workshops und Seminare zum Thema Stressmanagement und Burnoutprävention an und würden uns sehr freuen, wenn Sie interessiert daran sind, in diesem Rahmen Ihren Horizont zum Thema Stress zu erweitern.

Quellen

Akin, A., & İskender, M. (2011). Internet Addiction and Depression, Anxiety and Stress. International online journal of educational sciences, 3(1).

Brod, C. (1982). Managing technostress: Optimizing the use of computer technology. Personnel Journal61(10), 753-57.

DGB-Index: Gute Arbeit- Der Report (2016). Wie die Beschäftigten die Arbeitsbedingungen in Deutschland beurteilen Mit dem Themenschwerpunkt: Die Digitalisierung der Arbeitswelt – Eine Zwischenbilanz aus der Sicht der Beschäftigten. Institut DGB-Index Gute Arbeit. Berlin. https://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++76276168-a0fb-11e6-8bb8-525400e5a74a

Gimpel, H., Lanzl, J., Manner-Romberg, T., & Nüske, N. (2018). Digitaler Stress in Deutschland: Eine Befragung von Erwerbstätigen zu Belastung und Beanspruchung durch Arbeit mit digitalen Technologien.

Ko, C. H., Yen, J. Y., Chen, C. C., Chen, S. H., & Yen, C. F. (2005). Gender differences and related factors affecting online gaming addiction among Taiwanese adolescents. The Journal of nervous and mental disease, 193(4), 273-277.